Leseprobe

 

Mit freundlicher Genehmigung aus dem Buch:


"Das andere Auge. Begegnungen in Europa"
von Barbara Piotrowski
Edition Winterwork, ISBN 978-3-98913-079-1

 

 

Eine Palme wiegt sich im Gartencamp     (Rumänien 2023)                                                  

 

Ein flüchtiger, heller Ton durchbricht die Stille, in die Valentina uns mit ihrer sanften Stimme geführt hat, während wir – weder Arme und Beine noch Hände und Füße wahrnehmend – schwerelos auf dünnen Matten liegen. Schnell erlangt er höchste Höhen, fällt herunter und wird abgelöst von einem dunkleren, schweren, lange schwebenden Klang, auf den mehrere, stets eintönig bleibende Töne in unterschiedlichen Klangfarben folgen. Mein wohliges Behagen wird nur kurz von einer schrillen Dissonanz gestört, denn schon stiehlt sich ein neuer Ton in die aufkommende Leere. Er ist anders, er scheint zu singen und die weichen Wogen seines Schalls vibrieren endlos. Lauschend folge ich ihm zu den vier steinernen Buddhas, die mit geschlossenen Augen und gekreuzten Beinen in den Zimmerecken sitzen und friedlich zuhören. Wie beseelt schwebt der Ton weiter zu der kleinen dunkelbraunen Kommode, die mit einer Buddha-Statue aus weißem Marmor, einem ungeschliffenen, orangefarbenen Mandarin-Granatstein und einer weißen, mit weißen Margeriten gefüllten Vase dekoriert ist. Über die vor einem Windlicht und mehreren Klangschalen sitzende Valentina atmet er die Kraft neuer sphärischer Nuancen und dringt schließlich zu Gina und Cristina vor – und zu mir. Mit seinem seidigen Klanggewebe hüllt er mich ein, erfüllt und verzaubert mich mit endlos klingendem Timbre. Wie ins Paradies entführt fühle ich mich. Glücksverklärt schaue ich mit meinen geschlossenen Augen in diesen Raum und kann nicht glauben, was mit mir geschieht.  

 

Als Valentina mich zu ihrem Yoga-Abend einlud, schnitt ich gerade Gemüse fürs Abendessen. Unser Tag war belastet gewesen mit einem technischen Problem bei unserem Offroad-Wohnanhänger, aber wir hatten eine gute Werkstatt gefunden, die Abhilfe versprach und diesen schönen Campingplatz von Valentina und Claus, unseren Gastgebern. Doch dem Phänomen Yoga mit seinen spirituellen Symbolen und esoterischen Lehren stehe ich skeptisch gegenüber. Und dann sollte es auch noch sofort losgehen. Trotzdem brauchte ich nur kurz überlegen: In der historischen Region Moldau im Osten Rumäniens zum ersten Mal in meinem Leben an einem Yoga-Kurs teilnehmen zu können, wog mehr. Ich ließ das Küchenmesser fallen und folgte ihr. 

 

Wie ich später erfuhr, hatten Valentina und Claus sich in Deutschland kennen- und lieben gelernt. In Valentinas Heimat Rumänien bauten sie sich ein großes blaues Haus mit Gästewohnungen, und als Claus in den Ruhestand ging, zogen die beiden ganz dort ein. In einem Teil ihres großen Gartens eröffneten sie einen Campingplatz und im kleinen blauen Häuschen daneben bietet Valentina Yoga-Kurse und vieles mehr an.

 

Aus dem Yoga-Raum erklingt leise, angenehm sanfte  Klaviermusik. Drinnen sind mehrere Matten ausgebreitet, vorne für die nun in locker fallenden, weißen Leinenhosen und einem pastellfarbenen T-Shirt gekleidete Valentina, hinten für mich und meine inzwischen eingetroffenen Mitschülerinnen, Gina und Cristina. Schüchtern geben wir drei uns die Hand und begrüßen uns mit dem rumänischen „bună seara“ – und  dann, noch einmal offiziell, von Valentina angeleitet mit wie zum Gebet gefalteten Händen und der indischen Grußformel „Namaste“. Abwechselnd auf Rumänisch und Deutsch erklärt sie den Ablauf des Abends und läutet mit einem Glöckchen den Beginn ein. Wir setzen uns auf unsere Matten und Valentina faltet wieder ihre Hände. Das flackernde Windlicht mit seinem Ring aus  Klangschalen sieht aus wie ein Altar. 

 

In der rumänischen Sprache mit ihrer harmonischen Melodie klingen Valentinas Worte sehr schön, manche kommen mir bekannt vor, denn das Rumänische ist mit dem Italienischen verwandt. Solange habe ich noch nie der mir bisher fremden Sprache zuhören können. Was sie aber für mich davon ins Deutsche übersetzt, bringt mir meine Skepsis zu den Yogavokabeln wieder ins Bewusstsein. Innere Stärke finden, Entspannung und Ruhe suchen, Körper und Seele ins Gleichgewicht bringen und vor allem atmen, tief atmen. Dann aber hebt sie ihre Stimme, betont gezielt einzelne Worte. „Diesen heutigen Abend gestalten wir für uns“, verstehe ich. „Alles was wir machen, ist für uns, für unsere Familie, für unsere Freunde, für alle Menschen. Aber wir machen es auch für Gott.“ Sie hält inne, wiederholt den letzten Satz, der mich sehr erschreckt. Warum bringt sie jetzt Gott ins Spiel? Ich mache doch keine Dehn- und Streckübungen für Gott. Wie so viele Menschen bei uns in Deutschland habe ich mich im Laufe meines Lebens weit von ihm entfernt. Und daher kam ich auf unserer Reise durch Rumänien über die vielen Kirchen aus dem Staunen nicht heraus. Selbst im kleinsten Dorf gibt es mehrere. Fast neunzig Prozent der rumänischen Einwohner bekennen sich zur rumänisch-orthodoxen Kirche. Und jetzt lerne ich anscheinend eine richtige Gläubige kennen. Gina und Cristina nicken bei ihren Worten, sie haben sie besser verstanden als ich. Die kleine, mich nachdenklich machende Irritation rückt jedoch schnell in den Hintergrund, denn nun beginnt der sportliche Teil des Abends. 

 

Wir starten mit dem „Sonnengruß“, legen beide Hände übereinander über der Brust ab und atmen aus. Wir atmen ein und strecken unsere Arme gleichzeitig nach oben und nach hinten. Wir führen die Schulterblätter zusammen und spannen das Gesäß an. Wir atmen aus und beugen den Oberkörper nach unten, berühren mit beiden Händen den Boden. Einatmen, das linke Bein nach hinten strecken und den Fuß aufsetzen, dann das rechte Bein nach vorn ziehen, den Atem anhalten und das zweite Bein nach hinten stellen. Die Arme durchdrücken, ausatmen und dabei mit der Stirn und der Brust den Boden berühren. Wieder einatmen, den Oberkörper anheben, ausatmen und das Becken heben. So geht es weiter und weiter und irgendwann stellen wir uns wieder auf, strecken wieder beide Arme über den Kopf, atmen aus und legen unsere Arme an die Hüfte. Beendet ist der „Sonnengruß“ damit noch nicht, aber Valentina hat noch anderes mit uns vor. 

 

Vom „Sonnengruß“ kommen wir auf den „Hund“, wir verwandeln uns in eine „Kerze“ und einen „Fisch“. Überhaupt müssen viele Tiere ihren Namen für die Yogaübungen hergeben. Die Heuschrecken-Übung kenne ich, aber schon unter dem Namen „Königsübung“ oder „Bodenschwimmen“ ist es mir nicht gelungen,  auf dem Bauch liegend Arme und Beine wirklich hoch zu bekommen. Wir versuchen uns aber auch als „Krieger“ und „Helden“. Die „Wiegende Palme“ ähnelt einer mir ebenfalls bekannten „Warm-up-Übung“ auf dem Trampolin. Beim Einschwingen werden beide Arme mit locker zusammengehaltenen Händen hochgestreckt und nach rechts und links gedehnt. Die „Wiegende Palme“ als Yoga-Übung aber verlangt mehr. Mit ineinander verschränkten Händen, aber nach oben zeigenden Handflächen über dem Kopf verlagert man das Gewicht auf die Fußballen. Wer diese Stellung länger halten kann, soll sich wie eine Palme spüren können, fest und biegsam, geerdet und gleichzeitig in den Himmel wachsend. Den sportlichen Teil habe ich geschafft, aber gefühlt habe ich nichts. Und während wir uns verbiegen und dehnen, tief durchatmen oder den Atem anhalten, werden unsere inneren Organe massiert, Rücken-, Bauch- und Beinmuskeln gedehnt, die Schultern entspannt, unser Gleichgewichtsgefühl gefördert und das Herz geöffnet. 

 

Eigentlich soll unsere Aufmerksamkeit dem Atmen und körperlichen Empfinden gehören. Meine jedoch riskiert ab und zu einen Blick nach rechts oder links zu Gina und Cristina, um zu schauen, ob und wie ihnen die Übungen gelingen. Aber nicht nur ich schweife ab. Als sich meine Beine nicht freiwillig zu einem Fischschwanz verkleinern wollen und ich mich völlig verheddere, vernehme ich von Cristinas Seite ein leises Glucksen. Auch Gina versucht, ihr Lachen zurückzuhalten. Ich schaue auf meine verdrehten Beine und dann lachen wir alle zusammen, laut und lange. Es sieht wirklich zu komisch aus. 

 

Und zu meiner Überraschung endet der Abend noch lange nicht mit Valentinas wundervoller meditativer Entspannungsübung und auch noch nicht nach ihrem  paradiesischen Klangschalen-Konzert. Nachdem der mich ins Glück führende, singende, vibrierende Ton ausgeklungen war, rücken wir, in Decken gehüllt, mit unseren Matten in einem Kreis zusammen und trinken den Kräutertee, den Claus für uns zubereitet hat. Nach den ersten Kennenlern-Fragen „Wo kommst du her?“ und „Wie gefällt es dir in Rumänien?“ gelingt es uns, in einem wundersamen Gemisch aus Englisch, Rumänisch und Deutsch über alles Mögliche miteinander zu sprechen: Eine Unterhaltung über Gott und die Welt und darüber, wie wichtig es ist, dass wir über Ländergrenzen hinweg miteinander reden und versuchen, einander zu verstehen, die Unterschiede in unserer Kultur  zu tolerieren und sie als Bereicherung anzusehen.

 

Erst viel später findet der Abend ein Ende mit Cristinas inbrünstig ausgesprochener Vision einer friedlichen Welt: „Wenn wir uns alle so kennenlernen könnten wie wir heute, gäbe es vielleicht auch keine Kriege mehr wie in der Ukraine.“ – und damit, dass sich vier Frauen, die sich erst vor wenigen Stunden kennengelernt haben, zum Abschied lange und herzlich umarmen.